„Mama, ist Neuntrilliarden die höchste Zahl, die’s gibt?“ fragt mich unser frisches Schulkind vor zwei Tagen, während ich meine Arme im Spülwasser bade. „Nein, Finia, das ist nicht die höchste Zahl“, sage ich. „Was ist dann die höchste Zahl?“, will sie wissen. „Hmm,“ sage ich, rücke mit dem Schwamm einem Topf auf den Pelz und versuche, ihr dabei keinen Blödsinn zu erzählen. „Ich glaube, die Zahlen gehen immer weiter. Weil – selbst wenn man neuntrilliarden Gummibärchen hat, kann man ja immer noch ein Gummibärchen dazu legen. Und noch eins. ‚Unendlich‘ nennt man das.“
Ich denke an die umgefallene Acht , die mir im Abitur Kopfschmerzen bereitet hat. „Ist dann Unendlich die höchste Zahl?“, bohrt sie weiter, während ich zum Stahlschwamm greife. Ihre Augen strahlen beim Gedanken an so viele Gummibärchen. „Ein bisschen. Aber unendlich ist ja keine richtige Zahl,“ versuche ich ihr und mir zu erklären. Damit ist Ruhe, mein Mädchen verschwindet mitsamt Apfelschnitzen im Zimmer. Doch sie kehrt zurück – und holt aus: „Vielleicht ist dann ja Eins die höchste Zahl“, sagt sie. „So?“ „Ja, weil es gibt genau eine Welt. Und guck mal, auch ‚n Mensch ist immer genau eins.“ Ich setze mich, trockne mir die Hände ab und murmle „So hab ich mir das noch gar nie überlegt.“ Spülen kann herausfordern.
Ich möchte Euch heute etwas erzählen. Und Euch um etwas bitten. Am Anfang dessen steht Paulo. Paulo ist elf Jahre alt und unser Patenkind, seit er drei ist. Jeden Monat zahlen wir einen festen Betrag, der es ihm unter anderem ermöglicht, nötige Impfungen zu bekommen und in die Schule zu gehen. Ein Tropfen auf einen heißen Stein, aber immerhin ein Tropfen. Paolo lebt auf den Philippinen, in der Provinz Samar East – eine der von Taifun Haiyan am schlimmsten betroffenen Regionen. In seinem letzten Brief, die wunderbar krakelige Kinderschrift auf einem weiteren Papier für uns übersetzt von seiner Tante, schreibt er:
„I am very happy every day going to school with my siblings. We walked everyday going to school from our house. I am happy with my siblings and parents in our peaceful and with fresh air. We still have lots of trees, unlike urban places that are not peaceful crowded with vehicles. Also I am happy that you like to learn Filipino language. My first to teach you is the word KUMUSTAKA? Which means HOW ARE YOU? in English. I’ll teach other words in my next letter.“
Es gibt keinen nächsten Brief. Zumindest vorerst nicht. Wir wissen nicht, ob Paulo noch lebt, ob seine Familie noch lebt, ob Teile des bescheidenen Hauses noch stehen, ob er verletzt ist, ob er in den letzten Tagen etwas zu trinken finden konnte und etwas zu essen, ob er trocken, ob er beschützt ist. Genauso wenig wie wir wissen, wie es den anderen Millionen Kindern, Frauen und Männern geht. Wie gerne möchten wir ihn fragen: Paulo, KUMUSTAKA? Doch die Frage hallt nur zurück, ein Echo im leeren Raum.
Die Wissenschaft lässt kaum Zweifel darüber bestehen, dass es das klimaschädliche Verhalten insbesondere von uns Industrienationen ist, das Taifune im Ausmaß von Haiyan verursacht. Doch es sind Nationen wie die Philippinen, auf deren Buckel dieser Wahnsinn ausgetragen wird, während wir weiter in unserer vermeintlich intakten Welt sitzen und produzieren, kaufen, konsumieren, fahren und fliegen, als gäbe es kein Morgen. Und genau deshalb, liebe Leser, findet ihr diesen Post auf retrotravels, unserem Reiseblog. Nach dem Taifun kann ich nicht an unseren Sturmartikel anschließen, ohne das hier loszuwerden. Denn Haiyan stellt einmal mehr alles in Frage. Selbst, vor allem, mitunter unsere Reise.
Viele Menschen auf den Philippinen haben gerade ihr gesamtes Hab und Gut verloren, vielen haben die Flutmassen ihre Kinder aus den Armen getrissen, die nun in schwarzen Leichensäcken mit Nummern darauf in Massengräber gehäuft werden. Während für uns das Leben weitergeht, hat für viele Millionen Menschen der Taifun die Uhren auf Null gedreht. In restloser Abhängigkeit von gönnerhaften Industrienationen, stehen sie nun an zerbröckelten Flughafenmauern, oder andernorts im Schutt, und hoffen, dass sie eines der ersehnten Päckchen abbekommen. Darin: etwas Reis, vielleicht eine Decke, etwas, um das Wasser aufzubereiten. Jedes einzelne dieser Pakete in Ehren, jede wunderbare, tatkräftige Hilfe gewürdigt, doch ist das nicht reines Operieren am Syndrom? Was ist mit der Wurzel? Der philippinische Delegierte Naderev Sano sagt: „Wir weigern uns zu akzeptieren, dass unser Leben darin bestehen soll, vor Monsterstürmen zu fliehen, unsere Familien in Sicherheit zu bringen, Zerstörung und Not zu erleiden und unsere Toten zählen zu müssen.“ Auch ich ringe mit meinem Verstand, wenn ich versuche zu begreifen, wie man überhaupt noch über die Dringlichkeit eines sofortigen Klimaschutzes nachdenken kann, wie man über ein Für und Wider möglicher, potentieller, eventuell zu diskutierender Maßnahmen debattieren kann, anstatt sofort zu handeln. Ich kenne die vorgebrachten Gründe, aber ich verstehe sie nicht.
Wieviele Seminare zu Technik- und Umwelt-Soziologie habe ich belegt – und überall der gleiche Tenor: Es gibt eine empirisch nachweisbare, massive Diskrepanz zwischen Wissen und Verhalten. Will heißen: nur weil ich weiß, dass fliegen schädlich ist, lasse ich es noch lange nicht sein. In der Regel sind es einzig finanzielle Anreize, die uns dazu bewegen können, größere Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Will heißen: Nur wenn ich Geld spare, indem ich die Heizung herunter drehe, tue ich das auch. Ich frage mich oft, warum das so ist. Genauso wie ich mich zum Beispiel auch frage, warum ich jeden Morgen länger liegen bleibe, als ich sollte, obwohl ich weiß, dass mich das 10 Minuten später in Stress bringen wird. Ja – warum ist das so? Warum bestehlen und verpesten wir die Erde, obwohl wir wissen, dass wir uns damit langfristig unserer eigenen Lebensgrundlage berauben? Warum nehmen wir zur Kenntnis, dass das so ist, dass wir eben einfach so sind – als wäre das eine ontologische Gegebenheit, an der es nichts zu rütteln gäbe? Sind wir nicht soviel größer als dieses kollektive Schulterzucken?
Ich möchte Euch von einem Gefühl erzählen, das ich gerne mag. Ich mag es, wenn ich morgens gemeinsam mit tausend anderen Menschen aus der S-Bahn steige und zur Rolltreppe eile. Auch wenn ich mich sonst aus Speck-, Krampfader- und generellen Fitnessgründen für die kaugummibefleckten Betonstufen entscheide – morgens muss die Rolltreppe her. Ich mag das Gefühl, wenn einer nach dem anderen dieser anonymen Menschenmasse die Rolltreppe betritt und sich einreiht in das ungeschriebene Gesetz des „rechst-stehen-links-gehen“. Ich mag es, wenn die Welt für einen kleinen Moment funktioniert, wenn es die Menschen für den Bruchteil eines neuen Morgens schaffen, gemeinsam ein Ziel vor Augen zu haben, und dafür sorgen, dass es alle erreichen können.
Warum nutzen wir dieses Potential nicht, wenn es wirklich darauf ankommt? Ich habe die Hoffnung ein wenig aufgegeben, über die Politik den Klimawandel in den Griff zu bekommen (lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen), oder zumindest glaube ich, dass es zu riskant und zu passiv ist, mit erhobenem Zeigefinger nur allein darauf zu setzen und zu warten. Aber an der Hoffnung in uns Menschen, an der möchte ich festhalten. Nicht nur, weil es unsere einzige ist. Ich weiß zwar, dass das System mit der Rolltreppe nicht funktioniert, wenn von oben in die entgegengesetzte Richtung gedrückt wird. Aber ist es nicht so, dass wenn genug von unten nach oben schieben, von oben gar kein Durchkommen mehr ist? Auch um die potentielle Gefahr der Sogwirkung eines Stroms weiß ich – nämlich wenn er in die falsche Richtung schießt. Gegen den Strom schwimmen ist alles, heißt es deshalb. Doch was, wenn der Strom in die „richtige“ Richtung schwimmt, wenn man gemeinsam, Seite an Seite schwimmen kann? Ist das nicht eine wunderfeine Vorstellung?
Zurück zu den Hilfspaketen, die in diesen Stunden hoffentlich Paulo und seine Millionen Mitmenschen erreichen. Selber auf die Philippinen zu fliegen, um zu helfen, macht im Moment keinen Sinn – man wäre nur zusätzlicher Ballast, der irgendwie mit versorgt werden muss. Jede Hilfsorganisation, der wir unsere sofortige Hilfe angeboten haben, betont, dass im Moment vor allem Gelder benötigt werden, um im großen Stil flächendeckend Hilfsgüter in die zerstörten Gebiete zu bringen. Im Moment gehe es primär darum, diejenigen, die überlebt haben, am Leben zu halten. Es heißt also akut: spenden, was das Zeugs hält.
Nachhaltige Maßnahmen im Umgang mit dieser globalen Krise müssen aber neben der unmittelbaren Hilfe für die durch Zerstörung, Tod und Hoffnungslosigkeit gebeutelten Betroffenen noch eine zweite Komponente stemmen: einen nachhaltigen, radikalen und unmittelbar einsetzenden Klimaschutz. Deshalb ein weiterer Anstoß: der Weihnachts-Kaufrausch steht vor der Tür, mit allem, was dazu gehört – von Lichterketten-Brimbramborium, über überquillende Warentische, hin zu noch mehr und noch mehr Handys-iPads-phones-tabs-smartgedöns-und-haste-nicht-gesehen. Doch wenn wir ehrlich sind, brauchen wir den ganzen Kack doch gar nicht wirklich. Deshalb: wenn wir schon ausgeben wollen, dann lasst uns das Geld doch lieber dahin tun, wo es kein blindes Wirtschaftswachstum auf Teufel-komm-raus (Wortspiel beabsichtigt) fördert, sondern den akut Betroffenen zu Gute kommt. Hier zum Beispiel. Oder einer Organisation, die sich einem nachhaltigen Klimaschutz verschrieben hat. Und/oder, wenn es für einen selbst sein soll, einem Küchengerät mit tip-top Energieeffizienz-Klasse. Oder einer tollen recycle-Dusche, einem rosa Fahrrad, einer Monatskarte für die Öffentlichen, einem Solar-Irgendetwas. Und wer gerne anderen eine Freude macht – warum nicht zum Beispiel Flüchtlingen in Mali Ziegen schenken?
Lasst uns diesen Taifun nicht als tragisches Einzelerlebnis abhaken, sondern als Herausforderung begreifen, die uns alle betrifft, nicht nur Paulo und all „die Anderen“ in vermeintlich weiter Ferne – eine Herausforderung, die es anzugehen und zu meistern gilt. Irgendjemand hat einmal gesagt: wir tun gerade so, als hätten wir eine zweite Welt in petto. Das haben wir nicht. Ganz und gar nicht. In diesem Sinne stimmt es vielleicht wirklich, dass Eins die höchste Zahl ist.
Lasst uns also die Fische finden, mit denen wir schwimmen wollen. Es gibt so viele, die längst eine neue Richtung anpeilen – ich glaube, wir müssen nur die Augen nach ihnen aufhalten wollen. Und dann her mit der Rolltreppe, denn unsere Welt ist doch viel zu bezaubernd, als dass wir sie einfach so den Bach runter jagen könnten. Oder nicht?
Lasst uns gemeinsam Verantwortung übernehmen und an erster Stelle unser jeweils eigenes Klimaverhalten überdenken und ändern. Wir alle wissen doch, was wir unmittelbar tun können. Es gilt nur, die Lähmung zu durchbrechen und die Dinge umzusetzen. Auch wenn es einem wie ein Tropfen auf einen wüst um sich spuckenden Vulkan erscheint, es sich am Abend zu verkneifen, die Heizung im Bad für den Morgen hoch zu drehen, lieber kurz mit dem Fahrrad zum Bäcker zu pesen, als mit der Karre hin zu gurken, oder abends bei einem kleinen Rundgang alle Standby-Geräten vom Saft abzustöpseln. Ein Tropfen ist nur ein Tropfen, zwei sind nur zwei, und auch drei sind nicht mehr als drei. Aber da war doch dieses kleine, sagenumwobene, enigmatische Wort: un-end-lich.
Am Anfang stand Paulo. Und am Ende? Wir alle. Denn, wie ich mir habe sagen lassen, auch wir Menschen sind immer genau eins. Wir sind nicht unendlich, unsterblich schon neuntrilliarden Mal nicht. Aber das, was wir tun können, huijuijui, das strebt steil gegen diese umgefallene Acht, deren Sinn sich mir immer mehr erschließt.
Bildnachweis: Royel Mark Delez