XXVI. Ein Zelt faltet sich von selbst

Oktober 20th, 2013
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„Rechts,“ sage ich. „Links,“ sagt Fabian. Ein Schnick-Schnack-Schnuck später bauen wir das Zelt auf der linken Seite der Wiese auf. Leise schwappt das Wasser neben uns an das flache Ufer, fast nahtlos geht es ins Land über. Wir haben unser Tipi-Zelt und das Hostel verlassen, um noch eine Nacht an dem Ort zu verbringen, der die neuseeländische Südinsel so bezaubernd macht: in der Natur. Morgen wird uns die Autofähre zurück auf die Nordinsel bringen, doch heute sind wir in den verwunschenen Marlborough Sounds – hinreißende, kaum besiedelte Fjordlandschaften. Ein kleines schmales Sträßchen, der Kenepuru Drive, hat uns hier hinein gebracht, auf dem gleichen Sträßchen werden wir morgen wieder hinaus fahren. Ein anderes gibt es nicht. 

Wir sind auf einem Platz des Department of Conservation. Einzig eine Wiese, oberhalb ein kleines Klohaus im Busch und eine Kasse mit Schlitz, in die man ein paar Dollar stopft. Bereits während wir die letzten Heringe in den weichen Grund rammen und die längst schwarz gefärbten Neon-Schnüre spannen, fängt es an zu nieseln. Innerhalb von Minuten braut sich der Himmel schwarz, wir schaffen es gerade noch halbwegs trocken, im Vorzelt Nudeln abzukochen. Um sechs Uhr liegen wir dann wie Orgelpfeifen schlaf-fertig im Zelt, während die Wolkendecke über uns ihre Schleusen öffnet. Gegen zehn Uhr wache ich auf. Der Wind presst mir eine nasse Zeltplane auf das Gesicht, Finia ist am Rand schon nicht mehr darunter zu sehen. Wir legen sie zwischen uns und versuchen, wieder einzuschlafen, während der Wind draußen kreischt – schlimmer als die Druden bei Ronja Räubertochter auf der Kassette meiner Kindheit. Gegen ein Uhr wimmert Finia. „Ich schwimme!“, ihr Entsetzen ist ihr in die Stimme geschrieben. Wir sehen sie nicht, die Taschenlampe schwimmt auch und will nicht mehr angehen. Wir tasten nach ihr und tatsächlich, ihre Isomatte tänzelt auf kleinen Wogen im Zelt, ihr Schlafsack ist nass – ausgerechnet bei ihr wandert ein Fluss durchs Zelt. Wir ziehen sie im Dunkeln aus und wickeln sie in meine trockene Strickjacke. Als sie in meinem Schlafsack wieder eingeschlafen ist, wagen wir uns raus. Mit dem nächsten Blitz können wir sehen, wie sich die nahe Baumgruppe bedrohlich in Richtung Zelt neigt. Wir parken das Auto zwischen die Bäume und unser Zelt, vielleicht kann es im Notfall einen Schlag abfedern. Dann kriechen wir nass zurück ins Zelt.

Wasser, Blitz, Wind und Bäume – einzeln schön, in der Summe gefährlich – und wir mittendrin, eine millimeterdünne Zeltwand als einziger Schutz gegen die Gewalt der Natur. Bleiben oder Flucht? Alles stehen und liegen lassen und abhauen? Doch wohin! Ein Gedanke an die mickrigen, porösen Scheibenwischer reicht aus um zu wissen: Es hat keinen Sinn, in diesem Sturm würden wir nicht weit kommen. Angst lähmt mich, ich spüre, wie sich mein Innerstes verknotet. Es wird alles gut gehen, rede ich mir zu. Irgendwie geht doch immer alles gut. Immer. Doch woher weiß man, dass es auch diesmal gut gehen wird? Wie spürt man das? Spürt man das? Irgendwie schlafe ich wieder ein. Doch keine zwei Stunden später weckt mich Fabian. „Schnell“, sagt er nur. Kaum sind wir aus dem Zelt, presst es der Wind flach in den Matsch und stampft in unablässigen Böen wütend darauf herum, der Regen hilft ihm und peitscht. Wir bringen Finia ins Auto, legen sie auf unsere Holzkonstruktion im Kofferraum.  Fabian faltet sich hinter das Lenkrad und ich kuschel mich zur Küchenkiste auf die Rückbank. Alles ist nass, bis auf zwei Fleece-Decken, die wir unter und über Finia türmen. So geht die Sturmnacht zu Ende und nimmt die Druden und ihr Geschrei mit sich fort.

Eitler Sonnenschein weckt uns. Wir falten uns auseinander, wischen die beschlagenen Scheiben frei und sehen das ganze Ausmaß des Sturmes. Ein Baum hat ein Kanu, das zwei Meter neben unserem Zelt liegt, zerteilt. Ein anderer hat die Windschutzscheibe eines Vans zertrümmert. An der Stelle, an der ich das Zelt am Abend zuvor aufstellen wollte, also rechts, reißt sich ein viele Meter breiter, brauner Sturzbach den Hang hinunter. Auf unserer Seite der Wiese sind wie durch ein Wunder die Zelte, die noch stehen, baumfrei. Unseres wurde nur in Schutt und Schlamm zerlegt. Wir falten den stoffigen Matsch zusammen, binden ihn zum Surfbrett aufs Dach und wollen weg. Nur noch raus aus dem Fjord, nur noch zur Fähre, nur noch auf die Nordinsel. Die Sonne scheint unschuldig, taucht das saftige Grün des Busches in morgendlichen Glanz, die Straße eine einzige Dreckschleuder. Wir kommen nicht weit. Nach der nächsten Kurve blockiert ein Ungetüm von Matschberg die Straße, die Holzleitplanke wie ein Streichholz darunter zerdrückt. Wir drehen um und fahren in die andere Richtung. Dort soll es eine Siedlung mit einem kleinen Laden geben – unser Trinkwasser neigt sich dem Ende. Doch auch hier kommen wir nicht weiter: Ein Matschberg versperrt auch diesen Weg.

Wir sind also eingesperrt durch Matsche, unser Zelt ist Matsche, wir sowieso. Wir fahren noch einmal zum anderen Erdrutsch, vielleicht ist er ja weiter runter gerutscht und die Straße frei. Doch er steht wie eine Eins und ich denke an den einsamen Tiger bei uns daheim im Zoo, der immer entlang der Glasscheibe läuft. Vor und zurück, hin und her, in wehmütiger, rhythmischer Eleganz. Wir sind weniger elegant, ansonsten passt der Vergleich. Wir schalten den Motor aus und überlegen. Bei aller Dramatik – primär müssen wir die Fähre stornieren, das bringt uns sonst den finanziellen Ruin. Hätten wir doch ein Handy“, sage ich. Ich hab’s!“ ruft Finia, während ihr meine Strickjacke von der kleinen Schulter rutscht. „Wir bauen eine Flaschenpost!“

Doch da entdecken wir eine schmale Holztreppe, die zu einem versteckten Ferienhaus unterhalb der Straße führt. Verzweiflung macht mutig, wir folgen den Stufen und klopfen unten an die Türe. Eine Frau macht auf und beäugt uns kritisch. Ich kann es ihr nicht verübeln – wir sehen so wüst aus. Als wir sie fragen, ob wir kurz telefonieren dürfen, lässt sie uns herein. Das Festnetz hat der Sturm zerstört, aber mit ihrem Handy kommen wir durch. Über das Handy weiß die Frau auch, dass es auf der ganzen Südinsel nicht anders aussieht, als hier im Fjord. Ganze Tierherden habe der Sturm ausgelöscht, Schafe auf Bäume gespült, Autos von Straßen gedrückt. Sie sagt uns auch, dass die Aufräumarbeiten nach Prioritäten erfolgen – die wichtigsten Straßen zu erst. Unsere also nicht.

Wir verbringen zwei Nächte bei diesen Menschen. Wir dürfen unser Zelt auf ihrer Terrasse trocknen, auf ihrem Teppich im Wohnzimmer schlafen und ihnen dabei helfen, Torten, Fleisch und Eis im Wert von 600$ vorsilvesterlich aufzuessen, die in der Tiefkühltruhe vor sich hin tauen – der Strom bleibt weiter aus. Wir sitzen neben dem Gasgrill auf dem Balkon, überblicken den Fjord, der so tut, als wenn nichts gewesen wäre, und der vor Schönheit sprüht, und reden über Dinge, die weder sie noch uns sonderlich interessieren. Doch die Not schweißt zusammen, Dankbarkeit lässt uns noch immer still werden, wenn wir an diese Familie denken. Vielleicht gibt es solch schlimme Stürme in Deutschland nicht, vielleicht auch keine Camper, die Wettervorhersagen Spielverderber finden, aber ich habe mir dort geschworen, dass ich den ersten Reisenden, der in meiner Heimat nass wird, nicht weiter weiß und mir begegnet, in unsere Wohnung hole, ihn auf unsere beste Matratze bette, ihm ein warmes Essen koche und einen Becher heiße Schokolade nach dem anderen reiche. Solange, bis er weiter weiß. Das haben uns die Neuseeländer gelehrt. Mehr als einmal.

Auch wir wissen bald weiter. Bagger haben von zwei Seiten den Schlamm abgetragen und eine schmale Durchfahrt freigemacht. Unter Gejubel fahren wir los. Raus hier. Einfach nur raus aus dem Fjord und zur Fähre, die wir neu gebucht haben. Diesmal kommen wir ganze drei Kurven weit. Dort fehlt dann die Straße. Gänzlich. Sie ist weg, ratzeputze weg. In der Sturmnacht hat sie zwei Autos mit sich gerissen, erzählt uns einer, der seither im Wagen geschlafen hat. Wir warten weitere Stunden, viele davon, kochen letzte Kartoffeln mit einer Dose Erbsen, während eine Truppe Männer mit riesen Maschinen Schlamm, Wasser, Brocken und Bäume abtragen. Nie zuvor habe ich Menschen so konzentriert und so fröhlich arbeiten sehen. Dann legen sie Baumstämme quer und damit wird möglich, was unmöglich scheint: einige Autos können passieren. Darunter wir. Inzwischen bleiben nur noch zwei Stunden bis zur Fähre, doch die wollen wir kriegen. Unbedingt. Es ist Silvester und das möchten wir nicht am Hafen feiern; Freunde warten auf der Nordinsel. Fabian fährt, die Kurven kurven und Finia spuckt. In ihren roten Sandeleimer, den Schnuller gleich mit. Wir holen Feuchttücher und einen Ersatzschnuller, hängen den Eimer an die Anhängerkupplung und fahren weiter. Es gibt Momente im Leben, da muss man Prioritäten setzen. Das haben wir uns abgeguckt. Von unseren Helden, den Baggerfahrern.

 

Epilog: Wir haben die Fähre bekommen, um Haaresbreite. Erst heute, da ich die Bilder der Überfahrt betrachte, stelle ich fest, dass wir uns auf die linke Deckseite gesetzt haben. Einfach so, ganz ohne Schnick-Schnack-Schnuck. Alles andere wäre ja auch gelacht, wa?

 

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