„Wetten, die Wolke da ist zuerst drüben an dem Berg“, sagt Fabian und zeigt auf ein rasendes, zerrupftes, weißes Etwas am Himmel. Finia hat andere Sorgen: „Machen die eigentlich Töne, die Wolken?“ Es ist früher Abend. Wir liegen im Gras, lassen die Kürbisreste im Topf neben uns antrocknen und suchen nach Figuren in den Wolken. Mindestens ein Hase mit langen Ohren ist immer dabei.
Fabians Wolke erreicht den Berg. „Was passiert, wenn die Wolke da jetzt reinkracht?“ will Finia nun wissen. Und: „Macht dann die Wolke den Krach oder der Berg?“
Vor einigen Jahren las ich ein Buch, darin eine beiläufige Passage, die sich mir eingebrannt hat: Eine junge Frau geht joggen. Sie läuft und plötzlich glitzert vor ihr etwas im Gras. Sie freut sich, hält an und hebt es auf. Sie erwartet etwas Kostbares; es ist ein Stück schillerndes Plastik. Achtlos wirft sie es zurück, obwohl sie es einen Augenblick zuvor noch hinreißend schön genug fand, dafür ihren schweißigen Lauf zu unterbrechen.
Ich denke oft an diese Passage. Immer dann besonders, wenn ich feststelle, dass Dinge die Bedeutung haben, die wir ihnen beimessen.
Die Maori, Neuseelands Ureinwohner, nennen ihr Land nicht Neuseeland sondern Aotearoa. Nun kursieren viele Deutungen, für was Aotearoa steht. Lange, helle Welt. Dauernd klares Licht. Oder auch: langes, helles Land. Es gibt eine Bedeutung, die sich durchgesetzt hat und die sich selbst die Nicht-Maoris gerne auf ihre wehenden Fahnen schreiben: Lange, weiße Wolken. Neuseeland ist für viele das Land der langen, weißen Wolken.
Seit uns das erste Mal jemand davon erzählt hat, geht unser Blick vermehrt nach oben. Wie auch heute liegen wir oft abends im Gras, müde und erfüllt – von einer Wanderung, vom täglichen Zelt auf- und abbauen, vom Weiterziehen – und schauen in den Himmel. Und: ja, es ist das Land der langen, weißen Wolken!
So, wie das vielleicht jedes Land ist, wenn man es so sehen möchte.
Wenn die Wolken einmal nicht da sind, fehlen sie. Als würde ein himmelblauer Tag das Land für einen Moment seiner Identität berauben. Es fasziniert mich, wie wichtig es scheint, Dinge zu benennen. Als würden Dinge, die Wolken, überhaupt erst dadurch existieren. Sprache beeinflusst unsere Wahrnehmung und andersherum natürlich auch. Abgefahrener wird der Gedanke, wenn man sich überlegt, was wäre, wenn Aotearoa gar nicht Land der langen, weißen Wolken hieße, sondern insgeheim einfach nur brauner Schuh. Kürbismarmelade. Ja, wir brauchen die Sprache. Aber in ihr selbst liegt auch nicht die Bedeutung der Dinge.
Dass sich die Bedeutung der Dinge vielmehr dadurch bemisst, welche wir ihnen zuteil werden lassen – dieser Gedanke treibt mich also besonders um. Mit anderen Worten: das arme Plastik kann nichts dafür, dass es weggepfeffert wurde. Braucht es also auch nicht persönlich zu nehmen. Hieße Neuseeland das Land des glitzernden Wassers – ich bin mir sicher, unser Blick ginge vermehrt aufs Wasser, und die Fotos, die wir Euch heute hier zeigten, wären andere. Es ist wohl mit allen Dingen ein bisschen wie mit VW-Bussen: Wenn man erst einmal anfängt, sich für sie zu interessieren, sieht man überall welche herumgurken, genauso wie man erst wenn man schwanger ist oder sein will, die vielen gewölbten Bäuche um einen herum sieht.
Vielleicht lassen sich meine Gedanken auf den inflationär durch die Medien und Lifestyle-Ratgeber gejagten Begriff der Achtsamkeit reduzieren. Ich denke plötzlich an den kleinen Prinzen, der seine eine Rose liebt, obwohl es so viele Rosen ihrer Art gibt, einfach weil es seine Rose ist. Die Rose, die er gepflegt und gehegt hat, für die er verantwortlich ist. Ich frage mich, was es mit uns machte, wenn unser Land etwa „Land der lächelnden Menschen“ hieße. Und ich stelle fest, dass ich ihn mag, diesen Konjunktiv, der da mitschwingt.
Ja, Gedanken der Art traben einem im Kopf umher, wenn man neben antrocknendem Kürbis im Gras liegt und dabei zuschaut, wie Wolken in Berge krachen – oder andersherum. Man könnte natürlich aufstehen, und lieber den Kürbis aus dem Topf schrubben. Aber vielleicht brächte man sich dann um den gesammelten Reichtum einer Reise: Zeit. Ungefüllte, erfüllte Zeit.