Das Partyhostel hat einen neuen Gast: Stuart. Stuart schläft in einem klitzekleinen Pavillon neben unserem Tipi, hat fingerdicke Brillengläser und braucht Hilfe beim Tee-Kochen und Aufwärmen seiner Instant-Nudeln. Stuart ist 87 Jahre alt. Wer sich bisher gewundert hat, wer das junge Paar mit Kind hier eingeschleust hat, den wundert seit Stuart gar nichts mehr. Kinderbackstube in der Küche – wieso dann nicht auch noch der Opa dazu!
Doch wessen Opa Stuart ist, weiß keiner. „Den hat jemand hier abgegeben“, heißt es an der Rezeption. „Wie abgegeben?“ fragen alle. Es kam wohl eine Frau, heißt es weiter. Sie hätte gefragt, was die Nacht im Hostel kostet. Ob es Rabatt gebe, wenn man über Weihnachten und Silvester bliebe. Sichtlich zufrieden mit dem Preis habe sie dann das Pavillon gebucht, Stuart und seine Tasche hinein geräumt, ihm ein Päckchen Instant-Nudeln für jeden Tag in die Gemeinschaftsküche gelegt und eine Packung Earl Grey dazu. Sie habe noch einmal kurz gewunken, dann sei sie davon gebraust: „Bis in 10 Tagen dann!“
Die, die da sind, sind betreten. Keiner kann glauben, dass jemand seinen Vater, Onkel, Großvater über die Festtage einfach abschiebt. Für 10 Tage. In ein Partyhostel. Mit Instant-Nudeln, die sich der arme Mann nicht einmal selber zubereiten kann. Rat- und fassungslos schauen sich alle an. Bis sich Nico, der Argentinier, ein Herz fasst und Stuart ein Bier anbietet. Stuart lächelt für einen Moment, dann nimmt er die Flasche entgegen und wir sind nun offiziell ein Mehrgenerationenhaus.
Morgen ist Weihnachten. In Neuseeland feiert man erst am 25. Dezember, dafür schon gleich morgens. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. „Ist der Weihnachtsmann der Patenonkel vom Christkind?“ fragt Finia und zeigt auf das Dach gegenüber. Die Bewohner dort haben Figuren von Maria, Josef, ihrem Christkind und dem Weihnachtsmann zusammen auf den Ziegeln drapiert. Die Plätzchendosen sind voll, eine nach der anderen hat Finia die letzten Tage über gefüllt, während die anderen Gäste unter der Sommersonne in ihren Liegestühlen schmolzen. Fabian geht mit Ted, einem Amerikaner, der kein Amerikaner mehr sein will, einen Weihnachtsbaum kaufen. Schlaff hängen die XXL-Nadeln von der Tanne, die sie vom Dach des Vacationers losbinden und unter Gejubel in den Garten bringen. Wo hinstellen? Viele Menschen, viele Meinungen.
„Am Terrassenpfahl festbinden.“ „Nee! Neben die Hängematte stellen und dann muss immer einer drinliegen, um den Baum festzuhalten, so wie die olympische Fackel.“ „Nein, wir hängen ihn falsch ‚rum auf, schließlich sind wir down under und dann steht er so ‚rum, wie er in Europa auch stehen würde!“ „Ich habs! Wir bauen eine Konstruktion und lassen ihn über dem Pool schweben!“ Die Ideen nehmen kein Ende. Finia ist es egal, so lange sie endlich ihre glänzenden Kugeln dran hängen darf. Stuart sitzt auf einem Terrassenstuhl, schaut zu und trinkt seinen Tee, den ihm jemand gekocht hat. Der Nachmittag ist erfüllt von Herrlichkeit. Keiner muss irgendetwas. Niemand sagt, wie etwas zu sein hat, nur weil es schon immer so war und immer so sein wird. Keiner knüpft Erwartungen an ein Fest, das auf Knopfdruck Gemeinschaftlichkeit zelebrieren soll. Und dennoch ist sie greifbar.
Eines trübt: noch immer wissen wir nicht, ob ich das Unterhaltsstipendium für die Zeit in Australien bekommen werde. Ein Stipendium für die horrenden Studiengebühren habe ich bereits. Doch davon werden wir nicht leben können und Fabian wird uns mit seiner Arbeitserlaubnis über nur 20 Stunden pro Woche nicht allein finanzieren können. Mein Visum schreibt ein Vollzeit-Studium vor – die Zeit, nebenher zu arbeiten, wird begrenzt sein, abgesehen davon, dass wir noch keinen Kindergartenplatz für Finia haben.Wenn ich das Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nicht bekomme, könnte in 2 Wochen unsere Zeit zu Ende sein. Anstatt nach Australien weiter zu fliegen, müssten wir einen Flieger zurück nach Deutschland nehmen. Die Chancen stehen 1:7 – wir haben alles auf eine Karte gesetzt. Ich versuche meine Emails zu checken, vielleicht kam sie ja, die Nachricht, die alle Hoffnungen zerstören oder wahr werden lassen kann. Doch das Internet im Hostel streikt, zu viele junge Leute skypen mit ihren Familien in der Heimat, überall flackern argentinische, holländische, norwegische Mütter über die Bildschirme, während ihre Söhne und Töchter die Bierflasche unter dem Tisch verstecken und fröhlich erzählen. Ich nehme Finia an die Hand und laufe mit ihr in die Stadt. Wir finden ein ranziges Internetcafé. Fettige Klebestreifen hängen von der Decke, an der sich schwarze Fliegen gesammelt haben – zumindest all jene Fliegen, die mir nicht um die Nase schwirren, während ich mein Postfach öffne. Meine Hände zittern als ich lese, was ich mir so viele Wochen zu lesen gewünscht habe. „Herzlichen Glückwunsch, Frau B.“ Und so weiter und so fort und mit freundlichen Grüßen.
„Warum weinst Du, Mama?“
Ich lächel sie an und wische mir diese eine blöde Träne weg. „Alles ist gut, mein Mädchen.“ Ja, alles ist wahrlich wunderbar, herzjubilierend, vor Dankbarkeit in die Knie zwingend gut. Selbst als wir das Café und die Fliegen verlassen und im strömenden Regen zurück laufen. Der Regen peitscht, ich muss Finia festhalten, damit sie nicht auf die Straße weht. Irgendwo geht eine Tür auf und zwei Frauen winken uns hinein. Wie begossene Hunde finden wir uns in einem großen Gemeindehaus wieder, das Wasser rinnt an uns herunter und bildet eine große Lache auf den Fliesen. Hier dürfen wir stehen und warm sein bis das Unwetter vorbei ist. Als wir uns bedankt haben und weiter unseres Weges ziehen, sehe ich, dass wir in der Kirche der Siebenten Adventisten waren. „Kommt doch morgen vorbei“, rufen die Frauen uns nach und winken. „Für die Kinder gibt es eine Überraschung!“
Abends läuft Finia im Schlafanzug zu Benjamin dem Schornsteinfeger und seinem Freund Stefan. „Feiert ihr morgen früh mit uns?“ fragt sie.
„Natürlich“, sagen sie.
„Gleich morgens?“ fragt sie.
„Natürlich“, sagen sie. „Gleich morgens.“
„Am Baum?“
„Ja, am Baum.“
Ich habe so meine Bedenken, was die beiden unter „gleich morgens“ verstehen. Doch um 8 Uhr sind sie, nach drei Stunden Schlaf, mit Geschenken am Baum. Ted ist auch aufgestanden und hat eine Plüsch-Giraffe für Finia. Der Rest schläft noch, leise flimmern erste Sonnenstrahlen durch den Garten, die Kugeln am Baum glänzen, über Nacht hat noch jemand bunte Zuckerstangen für Finia an die Zweige gehängt. Wir umarmen uns und diese Freunde, die wir nach dieser Zeit hier vielleicht nie wieder sehen werden, packen gemeinsam Geschenke aus, frühstücken Plätzchen und überlegen, ob wir erst kurz in den Pool hüpfen oder gleich ans Meer gehen. „Ich möchte in die Kirche“, sagt Finia da.
Man möchte der frisch-entdeckten Religiosität seines Kindes ja nicht im Weg stehen, auch nicht, wenn sie Überraschungs-motiviert ist. Ein paar andere schließen sich uns an und wir laufen zum Gemeindehaus. Die Türen sind offen, Musik, Gesang, Gelächter dringen nach außen. Wir gesellen uns in den Gottesdienst, Kinder springen barfuß umher, es gibt eine Bastelecke und Leckereien. Zur Musik – Keyboard statt Orgel – flackert eine Videoanimation von Josef und Maria und ihrem Nachkommen von einer Leinwand. Mein Spießer-Ich vermisst eine Spur von Andacht. Doch nur bis ich in die fröhlichen Gesichter schaue, die uns herzlich aufnehmen. Schulterklopfen, freundliches Lächeln und Becher mit Getränken werden verteilt. Ob und welcher Konfession wir angehören spielt keine Rolle.
Den Rest des Tages wird gefestet, die Hostel-Besitzer kochen für alle, abends gibt es ein Buffet von jedem für jeden. Stuart ist immer mit dabei, jeder schaut ein wenig nach ihm und in der Summe ist dieses ‚ein wenig‘ auf wunderbare Weise genug. Gleiches gilt für Finia, die mal hier, mal dort schwätzt und in Poolnähe immer in Begleitung von irgend jemandem ist. Doch plötzlich ist sie weg, Benjamin der Schornsteinfeger auch. Wir finden die beiden, wie sie draußen in der Abendsonne vor einem kleinen Weihnachtsbaum knien. Sie unterhalten sich leise und feiern ihr ganz eigenes kleines Weihnachtsfest. In berührender Innigkeit, in vertrauter Geschwisterlichkeit.
Ich denke an unsere 3-Zimmer-Wohnung zu Hause, an die Abgeschiedenheit, in der Familien oft ihr Leben meistern, an das Kämpfen an einsamer Front im Alltag. Und ich denke an die vielen Glücksmomente, auch diese oft erlebt ohne Gemeinschaft, die sie teilen und multiplizieren könnte. Ich schaue auf unser Mädchen und ihren geliebten Schornsteinfeger und mir kommt das alte afrikanische Sprichwort in den Sinn: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen. Vielleicht, eventuell ganz sicher, gilt das auch andersherum: Jedes Dorf braucht ein Kind. Oder viele. Denn wenn man Glück hat, bringen sie das Größte, das Schönste, das Zärtlichste aus den Menschen heraus.