XII. Harry, Hummer, Wasserkresse

Seeigelfrühstück
Juni 16th, 2013
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Die haben nur zwei Haare!“, ruft Finia. Im Nachthemd kauert sie neben der Kühlbox vom Campingnachbar. Wir schauen ihr über die Schulter und sehen eine Handvoll Hummer, die sich dicht an dicht darin drängen. Mit Haaren meint sie wohl ihre Fühler.

Box und Hummer und Haare gehören zu Harry. Harry ist über siebzig und sieht aus wie fünfzig. Er ist ehemaliger Berufstaucher, Tauchlehrer und Maori. Ich war keine fünf, da haben mich meine Großeltern mit zum Tauchen und Jagen genommen,“ erzählt er uns. „Lern‘, dich mit dem zu ernähren, das die Natur dir schenkt“, hätten sie ihn ermahnt. „Sei unabhängig. Bleibe unabhängig!“ Harry holt mit ruhigen Handbewegungen Seeigel und riesige Paua-Muscheln aus einem nassen Netzsack. Gerade erst ist er von einem morgendlichen Tauchgang zurück gekommen.

Ich beobachte, wie Fabian mit sehnsüchtiger Faszination in Harrys Erzählungen versinkt. Es sind wortkarge Erzählungen, aber was er sagt, sitzt. Er spricht von seiner Zeit als Berufsfischer, von schwankenden Muschelpreisen, von Begegnungen mit Haien. Er schimpft über die Fischerei-Industrie, die die Meere restlos überfische, und über asiatische Tauch-Touristen, die zu kleine und zu viele Muschel tauchten und dadurch die sensiblen Bestände gefährdeten. „Warum können die Menschen nicht einfach nur so viel nehmen, wie sie wirklich brauchen?“, fragt er. Auch über seine Kinder- und Enkelkinde schimpft er, weil sie lieber zu McDonalds gingen, als selber zu fischen, zu jagen und ihr eigenes Obst und Gemüse anzubauen. „Dabei könnte ich ihnen all das beibringen!“ Harry fischt eine letzte Muschel aus seinem Beutel und legt sie behutsam auf die blaue Tonne vor sich.

Die Kolonialisierung durch die Briten im 19. Jahrhundert hat auch in Neuseeland irreparable kulturelle und soziale Schäden in der indigenen Bevölkerung verursacht. Auch wenn Neuseeland oft als Vorzeigemodell gilt, was die Beziehung zwischen der „alten“ und der „neuen“ Bevölkerung angeht – Alkohol, Arbeitslosigkeit und Gewalt regieren die Lebenswelten vieler Maoris. Harry hat es offenbar geschafft, sich etwas zu bewahren, das viele Maoris verloren haben: eine innige Verbunden- und Vertrautheit mit dem Land, den Gewässern, Wäldern und Tieren. Auch spricht er Te Reo Maori, die maorische Sprache, die nur noch die Wenigsten beherrschen. Als Tauchlehrer hat Harry die ganze Welt bereist. Und doch: einen Menschen mit mächtigeren Wurzel haben wir zuvor nicht getroffen.

Finia starrt abwechselnd auf die fleischigen Muscheln, die stacheligen Igel und die haarigen Hummer. Da nimmt Harry ein kleines Messer und schneidet blitzschnell einen der Seeigel entzwei. Behutsam hebt er das leuchtend gelbe Innere auf einen Löffel und reicht ihn Fabian. „Hier. Das gesündeste Frühstück, das du kriegen kannst.“ Fabian nimmt den Löffel, probiert und schluckt. Abwechselnd löffeln die beiden Männer den Seeigel leer, ein schweigsam inniges Ritual, dessen wir Anderen stumm Zeuge werden. „Wie pures Eiweiß mit Algengeschmack in Salzlake“, wird Fabian mir den Geschmack später beschreiben.

Am Abend sitzen wir mit Harry in der Campingplatz-Küche und essen in Knoblauch und Sojasoße angebratene Paua-Muscheln. Sogar Finia futtert begeistert ihre Portion, während sich die Männer auf den nächsten Morgen für 6 Uhr zum Tauchen verabreden. Ich weiß: für Fabian geht ein Traum in Erfüllung.

Als Harry im Morgengrauen am Zelt rüttelt, muss ich Fabian wecken, so tief schläft er (wie gesagt: Uhr, Handy, Eieruhr, Wecker oder ähnliches haben wir hier nicht). Harry hat ihm eine kleine Tasse starken Kaffee gekocht und das Equipment schon zurecht gelegt. Was die beiden an diesem Morgen erleben, wird vielleicht auch einmal hier zu lesen sein. Bis dahin so viel: sie kommen zurück mit Pauas im Netzsack und einem üppigen Bündel Wasserkresse. Anschließend verabschiedet sich Harry von uns. Er wird in den Norden fahren, um seine Mutter zu besuchen und auf ein Konzert zu gehen. Doch bevor er fährt, gibt er uns eine Wegbeschreibung. Sie führt zu seinem Haus, das ganz im Süden der Südinsel liegt. Dann erklärt er uns, wo der Schlüssel versteckt ist. „Frische Eier könnt ihr Euch aus dem Hühnerstall holen, in der Gefriertruhe ist Fleisch und die Erdbeeren im Garten müssten reif sein“, sagt er. „Bleibt, solange ihr wollt. Und wenn ihr geht, legt den Schlüssel einfach wieder zurück.“

Wir sind sprachlos; Harry geniert sich ein wenig. Eine Umarmung sagt mehr, als je gesagt werden könnte, dann ist er weg. Wir bleiben zurück und stehen da – den Arm voller Muscheln und Wasserkresse, das Herz voller Dankbarkeit.

Die nächsten Tage über werden wir uns ausschließlich von Nudeln mit Wasserkresse und Paua-Muscheln ernähren (von unserer Erdnussbutter einmal abgesehen) und einige Wochen später eine enge Freundin aus Deutschland treffen – mit ihrem neuen, neuseeländischen Freund. In der Nacht zu Finias viertem Geburtstag werden wir gemeinsam feststellen, dass er über zwei Ecken mit Harry verwandt ist. Er und unsere Freundin werden ein Jahr später heiraten – in Deutschland. Finia wird ihr stolzes Blumenmädchen sein. Die Tisch-Deko? Unzählige kleine Paua-Muschel-Stückchen.

 

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