XXII. Moment mal

Die Welt durch einen Schlitz
September 8th, 2013
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Der Auto-Fokus unserer Kamera ist kaputt. Urplötzlich und keiner weiß, warum. „Das würde einige Tage dauern“, mutmaßt der Fachmann im Fachgeschäft mit weltgewandter Fachmann-Miene. Einige Scheine würde es wohl auch kosten. Reparieren fällt also flach – schließlich wissen wir nicht, wo wir in einigen Tagen sein wollen und außerdem werden wir dort, wo wir noch nicht wissen, wo wir sein wollen, auch keine Anschrift haben, an die man die Kamera schicken lassen könnte. Fortan sind also erst einmal alle Bilder verschwommen. Genauer: alle Bilder die ich mache. Ich erkläre Fabian, dass es schlicht daran liegt, dass sich meine zu fotografierenden Objekte ständig in anspruchsvoller Bewegung befinden, was in den Bildern anspruchsvollen Ausdruck findet. Fabian findet, dass, wenn sich jemand während des Fotografierens bewegt, ich das bin.

Wie auch immer, der fehlende Auto-Fokus hindert uns nicht daran, zu den Gelbaugenpinguinen zu fahren. Er hindert uns ferner nicht daran, stundenlang in der Sand Fly Bay über zart verwehte Dünen zu wandern, um dann die schlumpfigen Tiere aus einer kleinen Holzbaracke mit Logensicht auf ihrem Weg zu ihren Nistplätzen an Land zu beobachten. Wie wir so beisammen hocken und angestrengt durch den Schlitz nach den vagen Punkten ausschauen, wie sie unbeholfen den Hang hochklettern (denkt ja nicht, Euch erwarten ersichtliche Pinguin-Bilder!), kommen in mir Erinnerungen hoch an eine Reise durch Neuseeland mit meiner Schwester und ihrem damaligen Freund.

Sie waren zwanzig, ich sechzehn. Wir hatten uns ein schrottiges Auto gekauft und die neuseeländische Südinsel umrundet. Während dieser Wochen haben wir viel Kürbis gegessen, in der Tonlage unseres Keilriemens „Über den Wolken“ gegrölt und auch wir fuhren damals zu den Pinguinen. Ich muss lächeln, wie mir plötzlich wieder einfällt, dass die beiden mich im stockschwarzen Kofferraum versteckt haben, um meinen Eintrittspreis für die Halbinsel mit den Pinguinen zu sparen. Wie ich so im Dunkeln kauerte und die Kieselsteine der Schotterpiste laut von unten an die rostige Karosserie spritzten, dachte ich: was für eine mutige Schwester ich habe. Wenn ich groß bin, möchte ich so sein. Genau so.

Unter uns ist inzwischen ein Riesen-Koloss von einem Seelöwen an Land gegangen und knurrt und müffelt bis zu uns hoch. Ich vermisse meine Schwester plötzlich mit einer Vehemenz, die mich schlucken lässt. Erstaunlich, wie man manchmal ans andere Ende der Welt fährt, um dort zu hören, wie laut das Herz schlägt.

Ein inbrünstiges „Mit dem Opa im Bodensee Pinguine angeln ist noch viel besser als Fische fangen!“ reißt mich aus meinen Gedanken. Finia unterhält sich mit einem jungen deutschen Paar, das sich zu uns gesellt hat. Gemeinsam wandern wir nach Sonnenuntergang durch die Dünen zurück. Für einen Moment frage ich mich, ob ich enttäuscht bin, dass uns nicht wie damals drei kleine Pinguine entlang des Weges überrascht haben und an unseren Schnürsenkel gepickt haben. Wie wunderbar wäre es gewesen, wenn Finia die lustigen Vögel von Angesicht zu Angesicht gesehen hätte. Doch dann rufe ich mir das vor Augen, was wohl jeder erfährt, der einen Ort bereist und ihn nach Jahren erneut aufsucht: Beim Reisen gibt es kein zweites Mal. Vielleicht liegt darin ein Geheimnis, auch wenn ich nicht genau weiß, für was; vielleicht lässt sich das aufs Leben generell ausweiten: Es gibt kein zweites Mal. Zumindest kein zweites wie das erste Mal. Denn ist nicht jedes zweite Mal auf seine Art auch wieder ein erstes Mal?

Wie berührend, beruhigend, diese Aussicht auf ewigen Neuanfang. Doch zugleich wird mir wehmütig ums Herz, wenn ich denke, dass sich alles Gelebte nicht wiederholen lässt. Nicht wahrgenommen, nicht genossen, zieht es vorüber und verschwindet im Strom der Vergangenheit, davongespült von ewig neuen Erlebnissen, die in das Leben, unsere Gegenwart, drängen – ungeduldig, rasch und unaufhaltsam auf unserem zielstrebigen Weg in die Zukunft, die schlussendlich auch nicht mehr ist als alles, was davor war und was danach kommen wird: Zukunft, dann Gegenwart, schließlich Vergangenheit.

Und Finia? Die steht am Strand, von Angesicht zu Angesicht mit einem Seelöwen. Zum ersten Mal. Versunken in diesem wunderbare Etwas, das sich Moment nennt.

 

  • Es den Pinguinen gleich tun: durch Dünen tappsen
  • Die Welt durch einen Schlitz
  • Die Pinguine: links am Hang
  • Abgang Seelöwe
  • Ich sag doch: anspruchsvolle Bewegung

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