Die Flut kommt mit pünktlicher Wucht und scheucht uns aus dem köchelnd heißen Holländer-Pool, der Hunger treibt uns zurück zum Zelt. Als wir dort ankommen, sitzt ein Mann an unserem Klapptisch und pult dunkelgrüne Erbsen aus hellgrünen Bohnen. Direkt neben unserem Zelt steht sein Wohnwagen. Er, also der Wohnwagen, ist so klein, dass ich spontan Sehnsucht nach meiner Puppenstube bekomme und mich wundere, dass da ein Mensch der Länge nach rein passen soll. Ein Tisch offenbar nicht. Der Wagen ist zwar breiter als lang, dafür aber so niedrig, dass sich einem die Frage aufdrängt, wie es das Ding unversehrt die Schotterpiste zur Küste und nun über die Wiese geschafft hat.
Da sitzt nun also dieser Mann an unserem Tisch und pult Erbsen. Während Finia wieder dem Bienen-Entertainment im Supermobil frönt, klären Fabian und ich in einem wortlosen Schnick-Schnack-Schnuck, wer mit Kochen dran ist, und setzen uns dann zu unserem Gast. Wer gewonnen hat, geht in meiner Erinnerung unter in der Erinnerung an Günter. So heißt der Mann mit den Erbsen.
Günter ist ursprünglich aus Berlin, lebt aber seit Jahrzehnten in Neuseeland. Jahrelang hat er Druckmaschinen verkauft, Druckmaschinen, die es in Neuseeland vor ihm nicht gab; jahrelang hat er in dem grünen Inselparadies gelebt, erst mit seiner einen, dann mit seiner zweiten Frau. Seine dritte geht er bald in Deutschland besuchen; seine Enkeltochter, bezaubernd schön, liegt im Wohnwagen und liest.
Eine seiner Frauen war Heilpraktikerin, erzählt er uns. Sie hatten ein Stück Land zusammen. Grün so weit das Auge reicht, mit einem eigenen Häuschen drauf, Tieren, einem Gemüsebeet (und bestimmt auch Erbsen). Günter erzählt und erzählt. Von seinen Druckmaschinen, seinen Kunden und seinen Frauen. Vom Leben in Neuseeland als Deutscher, bevor in Deutschland der Neuseeland-Hype ausbrach; von Einsamkeit, Gastfreundschaft, Sprachbarrieren. Er ist einer dieser Menschen, die erst aufhören zu erzählen, wenn es nichts mehr zu erzählen gibt und bereits dann eine neue Geschichte erschaffen haben.
Längst hat sich der Sternenhimmel der südlichen Hemisphäre über uns aufgespannt. Vereinzelt wuseln Camper mit Taschenlampen und Spaten um uns herum – es ist wieder Ebbe und sie wollen ein weiteres, diesmal nächtliches heißes Bad am Hot Water Beach nehmen.Wir nicht – gefesselt ans Zelt nicht nur durch unser inzwischen schlafendes Mädchen, sondern durch Günters Geschichten.
Wir kommen auf Neuseelands Natur zu sprechen. Liegt ja nahe: Vor Tagen das letzte Mal in der Zivilisation, umgeben von Regenwald, das Salz des Naturthermalbads noch auf der Haut, fernes, schauerliches Vogelkreischen im Ohr und seit Wochen primär barfuß, kommen Fabian und ich naturgemäß ins Schwärmen. Stellen Vergleiche mit unserem Leben in Deutschland an – ein Leben in Vorstadt-Dimensionen: Asphalt, Gartenzäune, Kehrwoche, Hauskatzen. Für einen Moment hört Günter zu. Dann legt er los.
„Von wegen, alles grün!“, ruft er. Es schwingt eine Spur Bitterkeit mit. „Die spritzen das Land hier in Grund und Boden.“
Er erzählt von Sprühlastern, die als Brandschutzmaßnahme literweise Anti-Unkraut-Mittel neben die Straße spritzten. Und von Gift, genannt „ten/eighty“, das auf Staatsbefehl flächendeckend verteilt würde, um Possums, Ratten und Hasen auszumerzen. Dass die eingeschleppten Tiere Neuseelands Vegetation und heimische Tierarten gefährden, ist uns bekannt. Nicht jedoch, dass dagegen mit Gift vorgegangen wird. Nicht, dass die Tiere daran qualvoll verrecken. Auch nicht, dass viele Süßwasser-Gewässer Neuseelands chemisch verseucht sind. Und dass es toleriert und begrüßt wird, seinem Unkraut mit einem Spritzer Gift aus handelsüblichen Pumpen zu Leibe zu rücken.
So ganz glauben wir das alles nicht. Wollen es vielleicht auch nicht. Zu schön das Image vom „100% pure New Zealand“ – Ergebnis einer Werbekampagne, die in den letzten Jahren erfolgreich die Welt überschwappt hat. Grünes Paradies. Alles andere passt nicht ins Bild. Auch nicht in unseres. Bis wir am nächsten Tag einen Ausflug zur berühmten Cathedral Cove machen, einem atemberaubend schönen Strandabschnitt in der Mercury Bay. Nach dem nächtlichen Gespräch mit Günter sehnen wir uns nach nur noch mehr Natur, nach noch mehr Grün.
Wir kommen am Parkplatz an. Von hier soll der Weg durch Regenwald zur besagten Bucht führen, in der übrigens auch Teile von „Narnia“ gedreht wurden. Die Aussicht hier oben ist der Knüller. Wir freuen uns. Bis wir sehen, warum die Aussicht so wunderbar ist: Ein Kerl auf einer Riesenmaschine ist gerade damit fertig, den gesamten Buschabschnitt um die Aussichtsplattform abzumähen. Jetzt beginnt er damit, um die hübsch angelegten Wege großzügig etwas aus einer Flasche auf seinem Rücken zu pumpen. Er trägt eine Atemschutzmaske. Uns wird klar: die schöne Aussicht hat einen hohen Preis für die Natur. Er ist der erste, den wir mit Sprühpumpe sehen. Aber bei weitem nicht der letzte. Auch wird es nicht lange dauern, bis wir die ersten Giftwarnschilder sehen. Rot, mit Ausrufezeichen, unmissverständlich.Der Weg fühlt sich nicht mehr ganz so grün an, wie wir ihn so entlang wandern.
Plötzlich kommt die Sonne raus. Ich packe das erste Mal hier in Neuseeland die Sonnencreme aus. Nicht nur LSF 50+ ist sie, sondern vor allem und vorbildlich: Bio. Mineralisch. Und überhaupt. Ist schließlich das Beste für das Kind, die Natur, die Umwelt. Oder?
Das Zeugs ist ‚n Albtraum, stellen wir fest. Klebt überall, lässt sich nicht verteilen und wird sich, wenn überhaupt, nur mit einem Spachtel wieder abtragen lassen. Ich fluche und schwöre, nie, NIE! mehr Bio-Sonnencreme zu kaufen. Bio können die anderen! Dann werde ich kleinlaut und denke: Ja, so ist es wohl mit den großen Idealen: Wenn sie unbequem werden, sind sie schneller weg, als man gucken kann.
Vielleicht ist das mit dem Unkraut und den Tieren nicht so viel anders.