„Ihhh! Macht mal’s Fenster auf! Hier stinkt’s!“, tönt Finia aus ihrem Mäuse-Schweine-Sitz. Ich kurbele das Fenster auf der Beifahrerseite herunter – das an der Fahrerseite klemmt heute. Es vergeht keine Minute. „Macht das Fenster wieder zu! Ich erstinke!“
Wir sind auf dem Weg nach Rotorua, einer Stadt im Landesinneren, die für geothermische Aktivitäten berühmt ist – und für Schwefel, der überall austritt. Die Folge: Nasensensation. Bevor wir den Stadtrand erreichen, haben sich die verfaulten Eier schon in unsere Nasen gefressen. Wir erklären Finia, dass der Geruch vom Schwefel kommt und wie spannend und aufregend es ist, dass wir nach Rotorua fahren. Dass es da Geysire und dampfende Quellen und sprudelnde Matsch-Löcher und überhaupt gibt. Geduldig hört sie zu. Dann: „Ihr könnt da ja hinfahren. Ich gehe solange zur Oma.“ Wir machen Seeräuber Opa Fabian an. Die Ohrsensation siegt über die Nase – wir erreichen Rotorua. Im Regen.
Es ist seltsam, nach so viel Natur in einer Stadt zu sein. Wir wissen nicht, wohin mit uns. Vielleicht wäre das anders, wenn es nicht regnen würde. Oder wenn wir Kohle hätten. Das Touri-Informationszentrum quillt über vor Flyern und Prospekten mit Attraktions-Superlativen. Ein „Thermal Wonderland“, Maori-Dörfer mit traditionellen Tanzvorführungen, großartige Museen, Thermalbäder mit Saunalandschaften, eine „Sommer“-Rodelbahn. Alles großartig, alles kostet.
Wir kaufen eine Tüte Zimt-Rollen und stehen auf einem Parkplatz herum. Die Campingplätze in Neuseeland sind teurer, als wir gedacht hatten. Der Salat wie gesagt auch. Sprit auch. Alles. Wir wissen, wieviel Geld wir noch haben. Was wir nicht wissen, ist, wieviel wir noch für das restliche Jahr brauchen. Wird Finia neue Schuhe brauchen? Werde ich eine Zusage für das Unterhaltsstipendium in Australien bekommen? Wird Fabian einen Job finden? Finden wir einen Kindergartenplatz für Finia, damit wir überhaupt arbeiten und studieren können? Und wenn ja: können wir ihn bezahlen? Wie jeden Tag fragen wir uns auch heute: Wieviel können wir hier in Neuseeland verpulvern, wieviel muss übrig bleiben für das Leben in Australien. Wir haben keinen Plan.
Dafür finden wir einen Campingplatz, der zwei winzige Pools hat, die mit Thermalwasser gespeist werden. Unter freiem Himmel. Umsonst. Saunalandschaft können die anderen!, finden wir und feiern unsere Pools. Den ganzen Nachmittag. Im Nieselregen.
„Do you breastfeed her?“ fragt eine Stimme neben mir. Ob ich Finia stille? Ich drehe mich um und sehe eine junge Frau, die sich mit ihrem Baby neben mich ins Wasser gehockt hat. „Ähh – nein“, sage ich. Und: „Nice to meet you übrigens.“ Die Frau blickt mich weiter an. „Also früher schon, aber jetzt nicht mehr“, füge ich hinzu, während unsere fast vierjährige Tochter eine Bombe vom Beckenrand macht und im Zuge dessen ihre Ohren unter Wasser tunkt (was man und sie nicht soll, wegen der Bakterien oder Würmer im Wasser). Ich schaue sie an. Ich finde nicht, dass sie aussieht, als wolle sie gerade gestillt werden. Die Frau sieht das anders. Lustig, so ein Tag im Pool.
Abends bin ich erst recht froh, dass Finia zufrieden mit ihrem Tee-Fläschchen ist. Dann können Fabian und ich nämlich in Ruhe streiten. Über was, haben wir vergessen. Es gibt ja Randbedingungen, die besser fürs Streiten sind und andere, die sich weniger eignen. Zelten gehört definitiv zu den weniger geeigneten. Oder zelten mit Kind zumindest. Zelten im Regen auch. Tick, tick, tick. Kein Türenschlagen (wenn man denn wollte), kein aufs-Sofa-ziehen, kein „ich geh‘ mal frische Luft schnappen.“ Die verdammte frische Luft ist überall.
Ich sitze in einem Aufenthaltsraum – gelber Teppich, gelbes Sofa, gelbes Muster – und halte das Babyphone in den Händen. Das Licht lasse ich aus, damit es sich besser weinen lässt. Fabian ist in der Küche und isst Cornflakes mit Milch und Kakao. Das erzählt er mir später – nachdem wir fertig gestritten und festgestellt haben, was man meistens nach einem Streit feststellt: dass jeder das Beste gibt. Und dass wir Glückskinder sind, dass wir hier sein können. Solche Glückskinder! Und dass es trotzdem manchmal nicht so einfach ist.
Die nächsten Tage trotzen wir dem Regen und der Regen trotzt uns. Wir machen low-budget-Rotorua und sind erstaunt, wie viel man unternehmen kann, wenn man die Bindfäden beschließt, zu ignorieren. Wir wandern um den schwefeligen „Lake Rotorua“. Wir schlendern durch den „Kuirau Park“, der voller Schlammlöcher ist, die köcheln, blubbern, spritzen, dampfen und: müffeln. Dann wollen wir eine Wanderung irgendwo machen, weil sie wegen irgendwas besonders ist. Doch der Weg kostet Eintritt. Vor dem Weg aber gibt es Hühner und Pfauen. Bei ihnen bleiben wir einen Nachmittag und Finia will aktuell nicht mehr zur Oma. An einem anderen Nachmittag wandern wir durch die „Craters of the Moon“ – raue, hinreißend schöne und wahrlich mondartige Krater-Landschaften. Ausgerechnet hier stattet uns die Sonne eine Audienz ab.
„Duhu“, frage ich abends im Zelt in die Dunkelheit.
„Ja?“, murmelt Fabian.
„Was wäre, wenn wir vorher, also noch in Deutschland, gewusst hätten, wie teuer hier alles ist?“
Ich mag ‚was-wäre-wenn-Fragen‘. Fabian nicht.
„Dann wären wir vermutlich nicht gegangen“, sagt er.
Ich weiß, dass er Recht hat. „Dann ist es wohl gut, dass wir es nicht wussten“, sage ich und meine es mit jeder Faser meines vor Feuchtigkeit klammen Schlafsackes.