Innerhalb von Sekunden entscheiden wir, dass wir weiter dem Haast Pass Highway folgen. Ein letztes Mal sehen wir das Meer, dann nehmen wir eine scharfe Kurve und steuern auf das gebirgige Landesinnere zu. Geradeaus hätten wir die kleine Haast-Jackson Bay Road nehmen können: Ein Holpersträßchen, das sich am Meer entlang schlängelt und durch Regenwald zu verborgenen Buchten führt und zu Pinguinen, die dort nisten. Nur flüchtig nehmen wir im Vorbeidüsen die unscheinbare Abzweigung wahr – immerhin ist sie nicht mehr als eine weitere Gabelung entlang unserer Reise, eine weitere Entscheidung, die gefallen ist. Einfach so. Einfach, weil Entscheidungen gefällt werden müssen.
Keine Reue entlang des Weges: Die Berge, durch die wir fahren, lassen uns alle paar hundert Meter anhalten – sie sind bezaubernd, wie sie dort im satten Sommergras stehen und Zipfelmützen aus Schnee tragen. Spätestens als wir am Lake Wanaka (dem für mich schönsten Ort in ganz Neuseeland) umgarnt von warmem Abendlicht, umsummt von einem Mückenschwarm, unser Zelt aufschlagen und am Steinstrand Nudeln mit Kürbis essen, scheint die Kreuzung vergessen. Nur eine von vielen ist sie, mehr nicht. Oder doch?
Aus irgendeinem Grund nagt diese Gabelung an mir. Er schmerzt noch heute, der Gedanke, dass wir die kleine Küstenstraße nicht genommen haben. Warum nur sind wir der klassischen Route gefolgt? Es hätte nur einen Schwenk mit dem alten, ledrigen Lenkrad gekostet, mehr nicht. Wer weiß, was wir auf dieser Route erlebt hätten?! Wären wir Pinguinen begegnet? Hätten wir einen Menschen wie Harry dort getroffen? Hätte uns ein Baum erschlagen? Wer weiß, womöglich hätten wir uns verfahren und verirrt, uns als Einsiedler niedergelassen und in Baströcken unsere wahre Bestimmung gefunden; vielleicht hätten wir den Vacationer auf den Rücken gedreht und als Boot zweckentfremdet, ein Ufo gesehen oder eine geheime Raketenstation erspäht. Wer weiß?
Die Antwort ist: niemand weiß es. Doch selbst wenn wir nach zwei Tagen wieder aus dieser Küstenpampa zurückgekehrt wären, ganz ohne eines der obigen Szenarien, und selbst wenn wir dann im Anschluss genauso dem Haast Pass Highway gefolgt wären – wäre dann nicht trotzdem die ganze Reise eine andere gewesen? Einfach durch die Verschiebung der Kausalitäten, die eine Reise tragen?
Ich habe mich als Kind oft gefragt, was beim Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spielen passiert, wenn man einmal ausgelassen wird. Oder einmal zuviel würfelt. Oder einen Zug versäumt. Das ganze Spiel wäre ja wohl entschieden ein anderes. Und zwar nicht nur das eigene, sondern auch das der Mitspieler.
Wie viele Dinge schließt man im Leben aus, tag-täglich, weil man sich für eine Sache entscheidet. Für den einen Weg, nicht die vielen anderen. Wir alle haben sie, diese „Roads not taken“. Ich finde, auf diese ständige Potenzialität des Anderen, des unbekannt-Anderen, muss man erst einmal klarkommen im Leben. Vielleicht gilt das fürs Reisen besonders: Die Kreuzung liegt, einmal überkreuzt, hinter einem; der Weg ist genommen, einmal für immer, selbst wenn man wieder zurück fährt. Kurzum: einmal gewürfelt ist gewürfelt. Und wie man das dann findet, ob die jeweilige Entscheidung wirklich, wie Robert Frosts lyrisches Ich sagt, den „ganzen Unterschied“ macht, und inwiefern und mit welcher Bedeutung, das weiß man eben erst im Nachhinein. In der Zukunft, die man leider und zum Glück noch nicht kennt.
Und selbst dann gilt wohl: Mensch, ärgere Dich nicht. Sondern freue dich an diesem hinreißenden Lake Wanaka. Denn genauso wie wir nicht-gegangene Wege haben, haben wir auch all die anderen. Die Wege nämlich, die wir gegangen sind.